Die Galgenlinde
Dies begab sich an einem Vorfrühlingstag vor einigen hundert Jahren. Der Märzwind fuhr über die Felder. Es roch nach Frühling aus der feuchten Erde.

Von dem nahen Kaufungen her und aus dem entfernteren im Tale gelegenen Bräunsdorf herauf strömten viele Bauern & Häusler nach der Höhe oberhalb des Malzteiches.

Es schien als sollte dort ein Fest stattfinden. Aber die Menschen waren nicht freudig gestimmt und lustig wie solche, die zu einem Jahrmarkt oder zu einer Kirmes gehen..

Kein Lachen war zu hören. Die meisten gingen schweigend und in tiefen Gedanken. Nur wenige sprachen erregt miteinander. Aus ihren Reden war zu hören, daß sie ein sehr ernstes Ereignis hierher führte. Am Galgen sollte ein Mensch sterben. Er selbst aber behauptete, er sei unschuldig. Und doch hatte man ihm das Urteil gesprochen : Tod durch den Strang!

Der Galgen erhob sich halb auf Kaufunger und halb auf Bräunsdorfer Flur. Mit Augen die weit offen standen vor Schreck, Angst und Verzweiflung, sah der Verurteilte seinen sicheren Tod entgegen. Als man ihm nochmals das Urteil verkündete, so wie es das Gesetz vorschrieb, schrie er voller Verzweiflung, so daß man es weit in der Runde hören konnte : "Ich bin unschuldig! Habt Erbarmen! Wollt ihr einen Unschuldigen hängen?" Die Richter aber hielten ihn für schuldig. Ihre Gesichter blieben hart und starr. In den unbewegten Mienen war keine Gnade zu erkennen. Da wußte der Unglückliche, daß er verloren war. Als aber der oberste Richter dem Henker ein Zeichen gab, seines Amtes zu walten, da stieß der Verurteilte diesen zurück, bückte sich und riß ein junges Lindenbäumchen aus dem feuchten Boden, scharrte hastig mit den bloßen Händen eine Grube in die locker, duftende Erde und pflanzte das Bäumchen hinein, mit den Wurzeln nach oben. Stumm und verständnislos sahen es die Richter. Staunend und erregt blickten die umstehenden Dörfler. Keiner wußte, was das bedeuten sollte. Der dem Tode verfallene Mann aber sah sich im Kreise um und rief mit lauter Stimme :"So wahr die Linde - mit den Zweigen in die Erde gepflanzten - wurzeln, wachsen und gedeihen wird, so wahr bin ich unschuldig. So sicher werdet ihr einen Unschuldigen ermorden.!" Schon hörte man die einzelnen umstehenden rufen :"Laßt Ihn frei!" Erwartungsvoll schauten alle auf den Richter. Doch der hob mit finsterer Mine zum zweiten mal die Hand. Nun waltete der Henker aus Penig seines Amtes.

Das Lindenbäumchen jedoch trieb in demselben Jahre noch Knospen und Blätter aus den Wurzeln. In der Folge wuchs es auf zu einem hohen Baume mit mächtigem Stamm und mit breiter Krone, in der die Blätter wie Tausende von grünen Herzen hingen. Der Baum hieß fortan die Galgenlinde.

In der Nacht nach dem Tage, da man den Unschuldigen gehenkt hatte, schlich sich eine dunkle Gestalt heimlich zu dem Galgen und machte sich dort zu schaffen. Am anderen Morgen fand man, daß dem Gehenkten beide Daumen fehlten. Was war geschehen? Ein Bauer aus Kaufungen war ebenso abergläubisch wie geizig. Nicht zufrieden mit dem was er hatte, eine fleißige Frau, gesunde Kinder, ein schönes Gut mit vielen Feldern und fettes Vieh, wünschte er sich in seiner Habsucht und in seinem Geiz immer mehr. Er war es, der dem vermeintlichen Dieb beide Daumen herausgerissen hatte, denn es herrschte zu der Zeit der Aberglaube, Diebesdaumen brächten glück.

Doch der erhoffte Reichtum blieb aus. Im Gegenteil! Der Bauer verließ sich ganz, wie es der Aberglaube wollte, auf die erbeuteten Daumen. Er, der früher so fleißig gewesen war, wurde nachlässig & ging der Arbeit aus dem Wege. "Wozu noch arbeiten? Ich hab doch die Diebesdaumen, die werden mir das Glück bringen", meinte er. Und siehe! Nach manchem faul verbrachten Jahr war er endlich so arm, daß er kaum mehr besaß als das Hemd auf dem Leibe und ein paar gebleichte Daumenknöchelchen, die einmal einem Dieb gehörten, der zudem keiner war. 

                                         

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erstellt von MK - WadM Februar 2000